Gerne redet die Fachpresse von einer zunehmenden Flexibilisierung der Arbeit, die mit der Digitalisierung einhergeht. Unter Slogans wie „Arbeitswelt 4.0“ preisen namhafte Beratungsunternehmen die Möglichkeiten agiler Selbstorganisation an. Hier sind 3 Gründe, warum es Unsinn ist, zu glauben, dass Unternehmen in naher Zukunft eine zunehmend flexible Gestaltung des Berufslebens ermöglichen werden.
1. Es gibt immer mehr Fachkräfte und Spezialisten

Fachkräfte sind gefragt, denn in immer mehr Branchen wird Spezialwissen benötigt. In den 1950ern musste ein Automechaniker sich kaum mit Elektronik auseinandersetzen. Doch nach und nach wurden in Automobile immer mehr Elektronikteile verbaut, weil diese mehr Sicherheit und Fahrkomfort versprachen. So wurden zunächst elektrische Fensterheber, Wegfahrsperre uvm. eingebaut. Mittlerweile muss ein Mechaniker nicht nur die Mechanik, sondern auch die Elektrik und Elektronik des Automobils beherrschen. Auf diese Weise entstanden neue Spezialisierungen für die alten Berufe, z. B. der Beruf des Automobilmechatronikers, der sich auf die Elektronik des Autos spezialisiert hat.
Anfangs des 21. Jahrhunderts hat man damit begonnen, die Automobiltechnologie zunehmend zu digitalisieren. Wenn nun in jedes Auto immer mehr IT-Komponenten verbaut werden, könnte es sein, dass es bald weitere berufliche Spezialisierungen gibt. Möglicherweise gibt es in absehbarer Zeit Automobilinformatiker, die die Software programmieren, die in den verschiedenen Autos verbaut wird. Der technologische Fortschritt sorgt für eine zunehmende Spezialisierung der Berufe.
Inflationäre Massenakademisierung
Mit der Spezialisierung werden aber neue Ausbildungen benötigt. Denn eine Fachkraft muss sich das Spezialwissen erst einmal aneignen. Es dürfte klar sein, dass diese Ausbildungen teuer sind – und sehr viel Zeit beanspruchen werden. Mechatronik ist nun einmal schwieriger zu begreifen als simple Mechanik.
In verschiedenen Branchen zeigt sich ein Trend zur Akademisierung von Berufen. In der Nahrungsmittelbranche arbeiten Biochemiker, Lebensmittelingenieure und Laboranten, aber auch in zunehmenden Masse sog. „Bioinformatiker“, die Software schreiben, mit der sich biochemischen und biologische Prozesse berechnen und sogar steuern lassen.
Aber auch in weniger technischen Branchen findet eine Akademisierung statt. Im Erziehungs- und Bildungswesen wird bspw. erwartet, dass Kindergärtnerinnen ein Studium auf Bachelorstufe absolvieren. Der Schweizer Lehrerverband forderte wiederholt, dass Lehrerinnen und Lehrer einen Masterabschluss haben müssen. Das Vertrauen in nichtstudierte Personen scheint vielerorts zu schwinden: egal ob in der Krankenpflege, der Hotellerie und Gastronomiebranche, in der Bank oder auf der Baustelle. Arbeitgeber fordern von ihren Angestellten Diplome ein. Jeder muss im 21. Jahrhundert studiert sein. Die Folge: es gibt immer mehr Studierte. Sogar der Hausmeister ist heute ein studierter Facility Manager.
Die Digitalisierung sorgt nicht für mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt. Es ist heutzutage nichts besonderes mehr, etwas studiert zu haben. Die Akademikerquoten sind in den letzten 10 Jahren europaweit überall angestiegen. Durch die zunehmende Konkurrenz ist ein Studium nicht mehr der Weg zu einem besser bezahlten Job. Vielmehr wird ein Diplom immer mehr zur Notwendigkeit, um überhaupt einen Job zu finden.
2. Zunehmende Akademisierung verhindert Jobwechsel
Ein Diplom zu haben, ist eine feine Sache. Doch ein Diplom bringt nicht nur Vorteile. Ob ein Studium sich lohnt, zeigt sich meist erst nach 5-7 Jahren. So lange dauert es nämlich, um ein Studium erfolgreich zu absolvieren und um in der Berufswelt Fuss zu fassen. Mit der Wahl des Studiums beeinflussen sie also bereits für eine sehr lange Zeit Ihre berufliche Ausrichtung. Was passiert aber, wenn Sie erst nach dem Berufseinstieg merken, dass Ihnen Ihr Beruf nicht zusagt?
Die Spezialisierung des Arbeitsmarktes verhindert in diesem Fall, dass Sie die Branche wechseln können. Wenn Sie etwas komplett neues anfangen wollen, müssten Sie wieder ein neues Studium beginnen und die nächsten 5 Jahre daran arbeiten, die Branche zu wechseln. Das benötigt viel Zeit und Kraft. Selbst wenn Sie es schaffen sollten, wird es lange dauern, bis sie in der neuen Branche akzeptiert werden. Denn ein Zweitstudium signalisiert potentiellen Arbeitgebern und Geschäftspartnern, dass Sie ein „Quereinsteiger“ sind.
In zahlreichen Firmen hat sich die Praxis durchgesetzt, Spezialisten zu bevorzugen, die sich auf einige wenige Dinge spezialisiert haben. In dieser Denkweise ist es am besten, möglichst wenige Talente zu haben und dafür in seinem abgegrenzten Fachbereich exzellente Leistungen zu erbringen. Lieber weniger können und dafür gut sein, als vieles zu können und dafür nichts richtig zu beherrschen. Es leuchtet ein, dass Multitalente aufgrund dieser Forderung nach Fokussierung in Bewerbungssituationen benachteiligt werden.
Quereinstieg wird immer schwieriger
Besitzen Sie bspw. Diplome in Kommunikationswissenschaften und IT, so werden Sie Mühe haben, potentiellen Kunden oder Arbeitgebern ihr Zweittalent als Stärke zu verkaufen. Sie müssen immer mit Leuten konkurrieren, die sich ausschliesslich auf IT fokussiert haben und wenn Sie Ihr Zweitstudium erwähnen, werden Sie schnell als Quereinsteiger abgestempelt.
Wenn Sie sich also auf ein bestimmtes Studium festgelegt haben, dann wird der Umstieg auf ein anderes Studium sehr schwer. Denn Sie müssen sich nicht nur in Ihrem neuen Fach beweisen. Sie müssen auch einer unnachgiebigen Gesellschaft zeigen, dass Sie den Umstieg „geschafft“ haben.
Langfristig und global betrachtet führt die zunehmende Spezialisierung also auch dazu, dass Menschen in verschiedene homogene Gruppen eingeteilt werden. Ein Ausbruch aus diesen Gruppen ist verpönt und führt zur Benachteiligung auf dem Arbeits- und Dienstleistungsmarkt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden sich auf einige wenige Fähigkeiten konzentrieren müssen, um in der zukünftigen Arbeitswelt bestehen zu können.
3. Unternehmenspolitik wird immer wichtiger
Es wird also in Zukunft immer mehr Spezialisten geben, die sich auf einige wenige Spezialgebiete fokussiert haben. Mit der Spezialisierung wird es aber zugleich auch immer schwieriger, sich über sein Wissen von Wettbewerbern und Konkurrenten abzugrenzen. In einer Wissensgesellschaft ist der Akademiker, der Fachmann, die Spezialistin und Expertin keine Besonderheit mehr. Schliesslich sind alle Berufsleute kompetente Fachpersonen.
Ein Wettbewerbsvorteil auf dem Arbeitsmarkt ergibt sich folglich nur über die Beziehungen zu Führungspersonen und wichtigen Stakeholdern. Wer die @Unternehmenspolitik beherrscht, sticht aus der Masse der kompetenten Fachpersonen positiv heraus. Ein guter Draht zum Chef und eine gute Beziehung zu wichtigen Kunden sind für den beruflichen Erfolg ausschlaggebend.
Die Arbeitswelt der Zukunft ist deshalb noch viel stärker auf das Beherrschen der Unternehmenspolitik ausgerichtet als auf den reinen Wissenserwerb. Sind die Machtstrukturen auf einem Markt bzw. in einer Branche verkrustet und undurchdringbar (z. B. durch Vetternwirtschaft oder undurchsichtige Seilschaften), wird auch die talentierteste Fachkfraft in dieser Branche keinen Erfolg haben – wenn sie die Unternehmenspolitik nicht beherrscht. Genau aus diesem Grund ist die Ausübung von Firmen-, Branchen- und Kundenpolitik von enormer Bedeutung.
Inflationäre Verbreitung von Fachkompetenz
Aufsichtsräte und Vorstände von grossen Konzernen werden bereits heute nicht aufgrund ihrer Fachkompetenz ausgewählt, sondern aufgrund ihrer Beherrschung der unternehmenspolitischen Machtspiele. Der Wandel zu einer Wissensgesellschaft fand bislang nur unter Angestellten statt. Erstaunlicherweise blieb die Kaste der Manager und Unternehmer von diesem Wandel verschont. Der Grund dafür ist einfach: das Beherrschen der Unternehmenspolitik wird in sämtlichen Firmen viel höher gewichtet als fachliche Kompetenz.
Für Sie bedeutet das: das Erlernen der praktischen Unternehmenspolitik könnte eine riesige Chance bedeuten. Allerdings ist auch die Politik eine Kunst. Und wie jede Kunst, muss auch die Politik erst erlernt werden.